Islam und Gerechtigkeit
Gerechtigkeit
Bei der Gerechtigkeit handelt es sich
um einen der Kernwerte
des Islam: Sie ist ein Beiname Allahs, ein Zweck der
Offenbarung, Aufgabe der
Propheten und Kerntätigkeit derjenigen, die im Lichte und
im Sinne seines
Befehls handeln wollen oder sogar Führerschaft anvertraut
bekamen.
Gerechtigkeit wird islamisch gesehen
eng verbunden mit
Balance, Harmonie und Gleichgewicht, denn der Koran
prangert immer wieder Dinge
an die diesem entgegenstehen:
-
Maßlosigkeit
يَا بَنِي
آدَمَ خُذُوا زِينَتَكُمْ عِندَ
كُلِّ مَسْجِدٍ وَكُلُوا وَاشْرَبُوا وَلَا تُسْرِفُوا ۚ
إِنَّهُ لَا يُحِبُّ
الْمُسْرِفِينَ ﴿٣١ الأعراف﴾
O ihr Kinder Adams! Zieht euch für jede
gottesdienstliche
Handlung sauber und schön an; und esst und trinkt, doch
seid nicht
verschwenderisch, denn Er liebt wahrlich nicht die
Verschwenderischen.
-
Übertretung und
Unrecht handeln
فَالْتَقَطَهُ
آلُ فِرْعَوْنَ لِيَكُونَ لَهُمْ
عَدُوًّا وَحَزَنًا ۗ إِنَّ فِرْعَوْنَ وَهَامَانَ
وَجُنُودَهُمَا كَانُوا
خَاطِئِينَ ﴿٨ القصص﴾
… Wahrlich, der
Pharao und Haman und ihre Heerscharen pflegten
ständig Unrecht zu tun (sie gingen auf verbrecherische
Weise mit den Menschen
um, und insbesondere mit den Kindern Israels).
يَا
أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا لَا
تُحَرِّمُوا طَيِّبَاتِ مَا أَحَلَّ اللَّهُ لَكُمْ وَلَا
تَعْتَدُوا ۚ إِنَّ
اللَّهَ لَا يُحِبُّ الْمُعْتَدِينَ ﴿٨٧ المائدة﴾
O ihr, die ihr glaubt! Erklärt nicht
das Gute, Bekömmliche,
das Gott euch erlaubt hat, für verboten; doch begeht nicht
Übertretung (indem
ihr entweder für verboten erklärt, was erlaubt ist, oder
Übertreibung begeht in
dem, was erlaubt ist). Gott liebt nicht jene, die
Übertretung begehen.
-
Übertreibung
Die Gerechtigkeit ist ebenfalls eng
verbunden mit dem
Grundwert der Wahrheit, Al-Haqq, welches ebenfalls einer
der Namen Gottes ist
und im Koran erwähnt wird, als einer der Zwecke der
Schöpfung:
Die Gerechtigkeit wird als die
Umsetzung der Wahrheit
angesehen. Jemand, der im Sinne der Wahrheit, nach der
Wahrheit oder für die
Wahrheit handelt, handelt gerecht und ist ein Gerechter.
وَمِن
قَوْمِ مُوسَىٰ أُمَّةٌ يَهْدُونَ
بِالْحَقِّ وَبِهِ يَعْدِلُونَ ﴿١٥٩ الأعراف﴾
Und unter dem Volk
Musas ist eine Gemeinschaft, die mit der Wahrheit
rechtleitet und nach ihr
gerecht handelt. Al-Araf:159
Die Lebensweise des Islam, seine Gebote
und Verbote,
insbesondere die Gebete und die anderen Gottesdienste
sollen uns helfen, uns
immer wieder die Grundwahrheiten ins Bewusstsein zu holen,
in Harmonie mit
allen lebensförderlichen Werten (Freiheit vs. Solidarität,
Individualität vs.
Verantwortung, kritisches Denken vs. Vertrauen,
Freigiebigkeit vs. Sparsamkeit,
Lebensfreude vs. Bedachtsamkeit, Rationalität vs.
Emotionalität usw.) zu leben,
Balance in der Pflege unseres Körpers, Seele und unseres
Geistes lehren, sowie
ein Gleichgewicht in der Erfüllung unserer individuellen
Bedürfnisse, wie z.B.
unserer Selbstverwirklichung, Anerkennung usw. und unseren
Bedürfnissen nach
Familie, Gemeinschaft und unseren Anteil zur Pflege dieser
Beziehungen
aufzubringen.
Allah lehrt uns das Wissen um diese
Dinge durch die
Offenbarung, die Ratio, aber auch und vor allem durch die
sog. Fitrah, einem
moralischen Instinkt, den Gott in jeden Menschen gelegt
hat.
Dieser entspricht dem „…moralische(n)
Gesetz in mir…“ aus
dem berühmten Zitat von Kant.[1]
Ein Hauptzweck des Koran ist es, wie es
der Prophet s.
einmal formuliert, an diese Fitrah zu appellieren, daran
zu erinnern und diese
wieder in uns freizuschaufeln und zu stärken[2].
فَأَقِمْ
وَجْهَكَ لِلدِّينِ حَنِيفًا ۚ
فِطْرَتَ اللَّهِ الَّتِي فَطَرَ النَّاسَ عَلَيْهَا ۚ لَا
تَبْدِيلَ لِخَلْقِ
اللَّهِ ۚ ذَٰلِكَ الدِّينُ الْقَيِّمُ وَلَـٰكِنَّ
أَكْثَرَ النَّاسِ لَا
يَعْلَمُونَ ﴿٣٠ الروم﴾
So richte dein Gesicht aufrichtig zur
Religion hin als
Anhänger des rechten Glaubens, - (gemäß) der natürlichen
Anlage Allahs, in der
Er die Menschen er schaffen hat. Keine Abänderung gibt es
für die Schöpfung
Allahs. Das ist die richtige Religion. Aber die meisten
Menschen wissen nicht.
فَذَكِّرْ
إِنَّمَا أَنتَ مُذَكِّرٌ ﴿٢١
الغاشية﴾
So ermahne; du bist nur ein Ermahner.
Nach der Wahrheit zu handeln, Maß und
Gleichgewicht zu
halten und die Harmonie der Schöpfung aufrecht zu
erhalten, braucht Energie:
Auch hier möchte uns die Religion des Islam nicht im Stich
lassen. Im
Wesentlichen lehrt uns der Prophet Muhammad, Friede und
Segen seien auf Ihm,
dass man durch die Gottesdienste sich selbst
diszipliniert, stärkt und vor
allem sich Gott wieder in das Bewusstsein[3]
bzw. ins Herz ruft, und durch diese Verbindung stärken wir
die den „Hauch
Gottes“ (Ar-Ruh, also die Seele) in uns. Durch die
„Anrufung“[4]
Gottes findet ein „Energietransfer“ statt, der uns in die
Lage versetzt,
unseren Begierden, Triebe und Emotionen Grenzen zu setzen,
zu lenken, ethische
und moralische Grenzen bei ihrer Befriedigung einzuhalten
und so keine
Disharmonie, kein Ungleichgewicht und letztlich Gewalt in
all ihren Formen zu
vermeiden.
Durch die Verbindung mit Gott, der auch
der Wahre, der
Gerechte, der Frieden, der Starke, der Liebevolle, der
Rächer usw. ist, bekommt
unsere Seele auch wieder Energie, sich für die Wahrheit,
für die Gerechtigkeit,
für den Frieden, für die Stärke, die Liebe und die
Genugtuung usw. einzusetzen.
In einer Zeit, in der sich das Leben
der Menschen so weit
entwickelt hat, das nun nicht mehr nur Spezialisierungen
und Arbeitsteilung
unter Menschen notwendig ist, sondern diesen
Spezialisierungen und
Arbeitsteilungen dringend institutionell Rechnung getragen
werden muss, sehe
ich die einzige Möglichkeit diesen Institutionen über
einen längeren Zeitraum
Macht und Autorität anvertrauen zu können, nur in obig
beschriebenen Geist
eines signifikanten Teils ihrer Mitglieder.
Ich sehe keine andere Möglichkeit
Fehlanreizen, die in jeder
Zeit und an jedem Ort in unterschiedlicher Gestalt
auftauchen, sonst zu
widerstehen. Eine ganze Institution, die im Namen ihres
ursprünglich guten
Zwecks nur noch auf dem Weg ist, Macht, Ressourcen und
Anerkennung aufzuhäufen
ist ungleich schwerer zu stoppen und gesellschaftlich
schädlicher als einzelne
Menschen.
Beispiele dafür sind die
Abrechnungsproblematiken und
Fehlanreize in unserem Gesundheitssystem, der Fehlanreiz
zu kurz- und
mittelfristiger Politik zugunsten von Wahlgewinnen, der
immer größer werdende
Vertrauensverlust in wissenschaftliche Institutionen, die
in einem Wettstreit
um Reputation und Ressourcen immer mehr um sich selbst
drehen und eine
mittlerweile ungenügende Distanz zur Politik und
Wirtschaft aufweisen. Ebenso
ein Wirtschaftssystem, dass sich mittlerweile immer weiter
von seinem ursprünglichen
Zweck entfernt hat, die Wohlfahrt der Menschen und der
Gesellschaft zu
steigern.
In jeder jetzigen oder zukünftigen
Institution (auch
religiösen) wird es Fehlanreize geben, die nur
ausgeglichen oder sogar
überwunden werden können, wenn ein signifikanter Teil
ihrer Mitglieder sich
selbst der Wahrheit und Gerechtigkeit und damit Gott
selbst verpflichtet sehen.
Viele Menschen sehen sich der Wahrheit
und Gerechtigkeit
verpflichtet und das ist für Muslime ein schöner Ausdruck
ihrer „Fitrah“ (siehe
oben). Aber wie wir an unserer aktuellen Welt und an
unserer Geschichte sehen
können, reicht diese Verpflichtung nicht aus. Menschen
brauchen Instrumente und
Techniken, die sie immer wieder an diese Verpflichtung
erinnern und ihnen Kraft
gibt, sich für diese Verpflichtung einzusetzen und vor
allem aber auch sich den
Hindernissen dieser Verpflichtung entgegen zu stellen und
Widerstand leisten.
An der Schwelle zu einer
vielversprechenden, aber evt. auch
apokalyptischen Zukunft der Menschheit, kann diese nur mit
dem Gnadengeschenk
des Islam beschritten werden.
Praktische Konsequenzen und unsere
Verantwortung
1.
Obige beschriebene Werte wie Individualität vs.
Verantwortung usw. sind
alle gute, richtige und einzuhaltende Werte, stehen aber
in einem
Spannungsverhältnis. D.h. ich muss versuchen, in meinem
Leben das Optimum
zwischen diesen verschiedenen Werten zu finden und nicht
eines auf Kosten des
anderen überzubetonen:
a.
Identifiziere die verschiedenen Werte, erfasse
die Zielkonflikte
zwischen diesen verschiedenen Werten und analysiere dann
deinen eigenen
Standpunkt in diesem Geflecht.
Versuche dich, mit deinem moralischen Gefühl langsam auf
die mittlere Position
einzupendeln.
Dies ist insbesondere wichtig, wenn du schon Vater oder
Mutter geworden bist,
um Fehler in der Erziehung deiner Kinder zu vermeiden.
2.
Gehe das Leben mit Ernsthaftigkeit, einem Sinn
und einer Mission an,
vergiss aber auch nicht das Leben mit dem was Allah dir
gegeben hat zu
genießen. Hilf auch anderen ihre Mission im Leben zu
finden, aber auch ihr
Leben zu genießen, und weise Sie auf Allahs
Gnadengeschenke an Sie hin
a.
D.h. wenn du jemanden siehst, den du stark,
intelligent, robust, schön
oder empathisch findest, so schenke ihm dafür
Anerkennung und hilf demjenigen,
diese Stärke auf dem Wege Gottes, der Wahrheit, der
Barmherzigkeit zu nutzen.
b.
Beachte dies auch, wenn du in Positionen der
Autorität bist und versuche
dein Bestes, dir anvertraute Menschen so zu führen, dass
diese einen Beitrag
zur Harmonie der Schöpfung beitragen können
3.
Kümmere dich um deinen Körper, Verstand und deine
Seele
a.
Arbeite für dich einfache Routinen heraus, die
dir langfristig helfen,
diesen drei Dimensionen gerecht zu werden.
Es muss nicht gleich die Anmeldung zum Fitnesscenter
sein. Regelmäßige
Spaziergänge, eine 3 Minuten Dua Routine für den Hin-
und Rückweg und das Lesen
von wenigen Seiten oder das Hören von Podcasts oder
Hörbüchern auf dem Weg
reichen schon.
4.
Gib deinen sozialen Beziehungen ihr Recht:
a.
Ein gutes Instrument dafür ist, deine
verschiedenen Rollen in deinem
Leben aufzuschreiben (bspw. Diener Allahs, Sohn /
Tochter, Ehemann / -frau,
Onkel, Kollege, Schüler, Student, Mitarbeiter,
Vorgesetzter,
Vereinsmitarbeiter, Moscheefreiwilliger usw.).
Dieser Überblick alleine hilft dir schon intuitiv auf
dem Weg zur Balance.
Schreibe dir nun die moralisch gebotenen
Mindesterwartungen auf, die auf jeden
Fall erreicht werden müssen und Ziele, die du gerne
erreichen würdest.
Navigiere nun dazwischen und überlege, wie du deine
Ziele erreichen kannst,
ohne die Mindesterwartungen deiner einzelnen Rollen zu
verletzen
[1]
Zwei
Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und
zunehmender Bewunderung und
Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das
Nachdenken damit beschäftigt: Der
bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in
mir. Ich sehe sie beide
vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem
Bewusstsein meiner Existenz.
Kritik der praktischen
Vernunft, 1788. Kapitel 34.
Beschluß
[2]
Auch
folgender Hadith weist klar darauf hin:
An-Nawwâs ibn Sam’âm (möge Allâh mit ihm zufrieden
sein) überlieferte, dass der
Gesandte Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und
ihm Wohlergehen schenken)
sagte: „Allâh prägt ein Gleichnis: ein gerader Weg,
der auf beiden Seiten von
zwei Mauern umgeben ist. In den Mauern sind offene mit
Vorhängen bedeckte
Türen. Am Tor des Weges steht ein Ausrufer, der sagt:
‚Ihr Menschen! Tretet
alle ein in den Weg und weicht nicht von ihm ab.‘
Unterdessen warnt ein
Ausrufer über dem Weg. Wann immer ein Mensch eine der
Türen öffnen will, sagt
er (der Ausrufer): ‚Wehe dir! Öffne sie nicht! Wenn du
sie öffnest, wirst du
hindurchgehen!‘ Der gerade Weg ist der Islâm. Die zwei
Mauern sind die Grenzen
Allâhs. Die offenen Türen sind die Verbote Allâhs. Der
Ausrufer zu Beginn des
Weges ist das Buch Allâhs, und der Ausrufer über dem
Weg ist der Mahner Allâhs
im Herzen eines jeden Muslims“ (Ahmad).
[3]
Eine der
Übersetzungen von Taqwa lautet Gottesbewusstsein
[4]
Einer
der Übersetzungen des Wortes „As Salah“